Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW39 21.09 - 27.09.2015

Contrepoint

Artist: 
Nicolas Godin
Erschienen: 
17.09.2015
Label: 
Because Music

Inspiration kann unterschiedlichste Quellen haben. Als der französische Architekturstudent und Amateurmusiker Nicolas Godin Mitte der 90er-Jahre erstmals den Auftrag erhielt, einen Song aufzunehmen, kam ihm der Pionier der modernistischen Architektur in den Sinn, Le Corbusier. Die Band, die er mit seinem Kommilitonen Jean-Benoît Dunckel gründete, wurde benannt nach dem Akronym für “Amour, Imagination, Rêve” (“Liebe, Vorstellungskraft, Traum”) – und AIR setzten an, eine wundersame Welt zu erdenken, die eine einzigartige Fusion aus Einflüssen wie modernem Pop, Film Soundtracks und retrospektiveren Pop-Spielarten (Pop Soft Rock, Exotica, 80er-Eurodance, Yéyé) war. Das letzte Studioalbum des Duos, „Le Voyage Dans La Lune“, war ein alternativer Soundtrack zu Georges Méliès’ Science-Fiction-Stummfilmklassiker von 1902.

Für sein erstes Solo-Album ist Godin nun noch weiter zurückgereist, um sich vorwärts zu bewegen. Auf der letzten Tour von AIR, 2010 mit dem Album „Love 2“ (2009), realisierte Godin, dass er in eine Sackgasse geraten war. „Ich beobachtete, dass Musik nur einen kleinen Teil meines täglichen Lebens einnahm“, erinnert er sich. „Und jeder Tag auf der Tour war gleich. Ich war, wie Glenn Gould es einst nannte, ein ‚reisender Affe im Konzertzirkus’ geworden.“

Überhaupt: Glenn Gould. „Ein legendärer Name“, wie Godin schwärmt. Der kanadische Pianist (1932-1982) verfügte über außerordentliche Fähigkeiten ebenso wie über exzentrische Züge und persönliche Obsessionen, eine galt dem Werk Johann Sebastian Bachs, Genie der klassischen Musik. Eine der Hauptdisziplinen des Meisters aus dem Deutschland des 18. Jahrhunderts war Kontrapunkt – contrepoint auf Französisch. Namentlich ging es um die Beziehung der ineinander verflochtenen Harmonien, die dabei doch in Rhythmus und Kontur unabhängig bleiben.

Godin: „Ein musikalischer Freund hatte mir von den beiden Dokumentationen erzählt, die Bruno Monsaingeon über Gould gemacht hatte, ‚Hereafter’ und ‚The Alchemist’. Ich sah mir also Gould an, einen der größten Musiker aller Zeiten, wie er die schönste Musik aller Zeiten spielte, Bach. Ich glaube, die extrem persönliche Art, wie Gould Bach interpretiert hat, widerspricht allen gängigen Regeln des Vortrags, was für mich gleichbedeutend mit der Erschaffung einer neuen Kunstform ist. Ich war augenblicklich angezogen von diesem mysteriösen und unzugänglichen Universum, das ich erkunden wollte, als ich wieder in Paris war.“

 Das Ergebnis ist Contrepoint, ein überwältigendes Erlebnis, das Godins gewohnten musikalischen Fusionen mit klassischen Formen verquickt und den Hörer mitnimmt auf unterschiedlichste, abenteuerliche Reisen – oft innerhalb des selben Songs –, bei denen Kontrapunkt nur einer von vielen Wegmarken ist. Es ist bemerkenswert vielseitig in Ton und Rhythmus, bricht Genres mit einem mutigen, ausdrucksstarken und doch immer auch sinnlichen, mitreißenden Gefühl auf, begleitet von fesselnden lyrischen Erzählungen und einer hochkarätigen Gästeliste, darunter der französische Vokalist Gordon Tracks aka Thomas Mars (Phoenix), der brasilianische Sänger Marcelo Camelo, der italienische Autor Alessandro Barrico, Gitarrist Connan Mockasin aus Neuseeland und der Chor des mazedonischen F.A.M.E.'S.-Projektes.

Die prägende Kraft auf Contrepoint ist jedoch Johann Sebastian Bach. Jeder Album-Track verwendet ein Stück von Bach als Bezugspunkt, bevor er in alle möglichen Himmelsrichtungen schießt. Auch Glenn Gould ist anwesend, jedoch mehr als spiritueller Wegweiser denn als kompositorischer. Der vorherrschende Einfluss von Contrepoint ist Godin selbst, der auf einem gänzlich neuen Inspirationslevel komponiert, sowohl strukturell als auch emotional.

Obwohl AIR sich nicht aufgelöst haben, befindet Godin doch nach sieben Studioalben: „Wir haben uns selbst nicht mehr überrascht, wie die meisten Bands, die seit zehn oder mehr Jahren zusammen sind. Die große Herausforderung für jeden Künstler ist es, Gründe dafür zu haben, Musik zu machen. Denn Alben gibt es da draußen schon genug. Ich hatte mit AIR ein Statement gemacht und wollte zurückgehen in die klassische Welt, um musikalisch erwachsen zu werden; um mich zu erneuern.

Selbst in der jetzigen Phase seiner Karriere und seines Lebens nahm Godin daher erneut Klavierstunden, um Bach weiter zu erschließen. „Er ist überall, der Ursprung von so viel Musik“, sagt er. „Ich studierte wie Bachs Musik funktioniert, wie seine Melodien und Akkorde strukturiert sind. Ich dachte dabei seinerzeit nicht an ein Soloalbum, sondern wollte einfach nur besser Klavier spielen, da ich Bach nicht gut genug spielen konnte. Außerdem wollte ich wirklich, dass die Leute – nicht nur klassische Zuhörer, sondern meine Kinder und Freunde – die selben wundervollen Dinge hören, die ich hörte.“

Godin entschied sich, mit der Aufnahme von Bach-Stücken zu beginnen, „aber nicht, weil ich ein Bach-Album mit modernem Sound machen wollte, ich wollte kein Wendy-Carlos-Album machen. Sie hat das in den 70ern bereits brillant erledigt. Das Problem ist, wie man etwas Neues macht, denn alles ist schon einmal gemacht worden! Als ich aber hörte, wie Glenn Gould darüber sprach, wie er die Vergangenheit erkundet und transformiert, wusste ich: Genau danach suche ich.“

Godin startete eine Phase des Transformierens, „in der ich Teile von Bachs Partitur nahm, dann neue Parts kreierte“, wie er sich erinnert. „Manchmal bleiben auf diese Weise nur 30 Sekunden von Bachs ursprünglicher Musik übrig. Ich wollte jedoch, dass die Leute Contrepoint hören und dabei nicht einmal bemerken, dass es Bach ist. Und in diesem Prozess wurde mir klar, dass ich ein Soloalbum gemacht hatte! Ich betrachte es aber eher als Hommage an all die großartigen Komponisten, die mich inspiriert haben. Ein Album über Bach zu machen führt automatisch zu all den Komponisten, die Bach gehört haben.“

In gemeinsamer Arbeit mit dem Co-Songwriter, Arrangeur, Keyboarder und Bach-Spezialisten Vincent Taurelle in AIRs Studio de l’Atlas in Paris erschuf Godin schließlich acht Stücke ...

...für die sich das Einschalten gleich 16-mal lohnt! - Montag bis Freitag um 14.15 Uhr oder am Sonntag von 18-19 Uhr auf Radio free FM 102,6 MHz.

Tracklist:
1. Orca
2. Widerstehe Doch Der Sünde
3. Club Nine
4. Clara
5. Glenn
6. Quei Due
7. Bach Off
8. Elfe Man

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