Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW16 | 13.04. bis 19.04.2015

Edge Of The Sun

Artist: 
Calexico
Erschienen: 
09.04.2015
Label: 
City Slang / Universal

Selten waren Calexico wertvoller als heute. Wie diese Swinging Seven, Eight oder Nine aus mehreren Kontinenten gerade wieder den Sound-Komplex Calexico modifizieren, in dem Folk, Country, Rock, Jazz, Mariachi-Musik und Noise von Song zu Song neu gewichtete Rollen erhalten, das ist ohne Vergleich. Nordamerikanische, mittel- und südamerikanische und europäische Stil-Elemente fließen gewinnbringend in ein interkulturelles Projekt, das jetzt wieder ein Album in die Welt geworfen hat: „Edge Of The Sun“.

Mitte der 1990er, als Joey Burns (Gitarre, Banjo, Piano, Orgel, Akkordeon) und sein kongenialer Partner John Convertino (Drums) sich aus der Wüstenrockcombo Giant Sand ihres Ziehvaters Howe Gelb in die Selbständigkeit aufmachten, war die Karriere von Calexico nicht abzusehen gewesen. Wie Jacob Valenzuela, der mexikanische Trompeter, Martin Wenk (Vibraphon, Trompete), Jairo Zavala, Gitarrist der spanischen Band Amparanoia und US-Pedal-Steel-König Paul Niehaus diesen Laden Calexico mit frischen Glücks-Infusionen versorgen, ist von Veröffentlichung zu Veröffentlichung neu zu bestaunen. Es existieren starke Verbindungslinien zwischen den Calexico-Alben, in den musikalischen und lyrischen Erzählsträngen, Joey Burns hat in den Lyrics des neuen Albums vor allem Motive aus „The Black Light“ (1998) und „Feast Of
Wire“ (2003) entdeckt: „Die Konfrontation mit der Dunkelheit und die Kämpfe, die die Charaktere in den Songs austragen müssen, die immer wieder auftauchen.“ Abgründe und schwere Schicksale waren auch Thema des 2012er Albums „Algiers“, das in dem gleichnamigen historischen Stadtteil von New Orleans aufgenommen wurde. Der Sprung von der Wüste in ein Post-Hurricane-New Orleans klang in den musikalischen Erweiterungen nach, die Calexico an dieser Station ihrer Expedition probten.

Und jetzt also Coyoacán, die stille Oase im Moloch Mexico City. Prächtige Herrschaftshäuser erinnern an die Zeit der spanischen Konquistadoren, Frida Kahlos „Casa Azul“ ist nur 5 Minuten Fußgweg vom „Fresno Estudio“ entfernt, wo Teile von „Edge Of The Sun“ entstanden. Dass Burns und Convertino Coyoacán als Abfahrtsort ihrer jüngsten Song- und Soundreise wählten, geht auf eine Idee von Arrangeur und Co-Produzent Sergio Mendoza zurück. Diese Entscheidung erst katapultierte die Band in den kreativen Prozess, den sie suchte, sagt Joey Burns. „Mexico City half uns Klarheit darüber zu gewinnen, wo wir als Band gerade stehen.“ Raus aus den Routinen, die auch ein Ensemble einholen, das musikalische Grenzen wie selbstverständlich einreißt, mehr noch, das sich der Überschreitung von Pop-Gemarkungen und geopolitischen Festlegungen schon in seinem Stammbuch verschrieben und zahlreiche Konzerte mit einem ausgewachsenen Mariachi-Orchester (Mariachi Luz de Luna) gegeben hat. Was jetzt überrascht, ist, dass „Edge Of The Sun“ kein Mariachi-Album geworden ist.

Joey Burns hat für diese Songs so etwas wie den „Geist der Zusammenarbeit“ neu entdeckt. „Als wir mit der Arbeit anfingen, luden wir Leute ein, das war eine ganz natürliche Sache. Wir haben Gäste immer willkommen geheißen, das liegt in unserer DNA. Wir haben reichlich kollaboriert auf anderen Platten in der Vergangenheit, aber so ausgedehnt wie auf dem neuen Album war das noch nie der Fall. In fast jedem Song ist ein anderer Gast zu hören.“

Ben Bridwell von Band Of Horses taucht als Vokalist in der Albumeröffnung „Falling From The Sky“ auf, ein Stück Sehnsuchtsmusik aus dem aufgewühlten Bauch von Calexico, das mit einer Synthesizerspur ins Hier & Jetzt des Pop weist, im selben Moment aber so klingt, als hätte jemand die Hookline vor über 40 Jahren in einer Kneipe in San Antonio/Texas aufgegabelt, gerade noch einen Song des wunderbaren Sir Douglas Quintet im Ohr. Sam Beam (Iron & Wine) hat seit 2005 mehrere Aufnahmen mit Burns und Convertino gemacht, auf „Bullets & Rocks“ schenkt er dem calexicolischen Klangbild einen samtigen Gastgesang. Die spanische Sängerin Amparo Sanchez, die sich für die indigene Bevölkerung des mexikanischen Bundesstaats

Chiapas engagiert, hatte bereits 2008 eine Gastrolle bei Calexico eingenommen und ihr Solo-Debüt mit Burns und Convertino eingespielt, 2015 verleiht sie einem Calexico-Song die entscheidende Dosis Soul – die spacige „Cumbia De Donde“ sollte uns bis auf die Latin-Dancefloors des Sommers begleiten. Gitarrist Greg Leisz befördert „When The Angels Played“ per Pedal Steel in den Himmel für die etwas andere Countrymusik, Pieta Brown singt und hat die Lyrics geschrieben. So geht das, Song für Song, Neko Case, Gaby Moreno, Carla Morrison und Nick Urata von der Band Devotchka sind auch noch zu hören. Und zwei klassisch trainierte

Instrumentalisten aus Athen (Bouzouki, Violine) im epischen Songspukschloss „World Undone“. Die größte Überraschung war für Joey Burns der Gesangsbeitrag von Carla Morrison, „sie nahm unsere Stimmung auf und schickte den Song 'Moon Never Rises' in ein komplett anderes Universum“. Wenn Burns jetzt das Album hört, nehme er vor allem Freude wahr. „Herausragend war für mich, dieses Gefühl mit den Band-Mitgliedern und ganz besonders mit den Gästen zu teilen, die das Album zu etwas noch Speziellerem gemacht haben.“

In diesem inspirierenden Miteinander wird „Edge Of The Sun“ auch zu einem
kulturübergreifenden Manifest, ein Album, das sich über die Ideen vieler in einer Einheit präsentiert. Joey Burns und John Convertino halten die Fäden in der Hand und tun das, was sie am besten können; sie spüren die emotionalen Elementarteilchen auf, die auf den Straßen ihrer Reisen liegen und verdichten sie zu memorierbaren Songs.

Burns blickt jetzt schon über „Edge Of The Sun“ hinaus. „Ich kann mir sehr gut vorstellen, nach Coyoacán zurückzukehren und wieder mit diesen erstaunlichen Musikern zu spielen.“ Einer von ihnen kollaboriert mit dem Künstler Pedro Reyes im 'Disarm'-Projekt, in dem Werkzeuge der Gewalt recycelt werden (die von Gang-Mitgliedern von Drogen-Kartellen benutzt worden waren).

„Wir haben Reyes' Installation und einige der Instrumente besichtigen können, die aus Waffen gebaut wurden, die die Regierung gesammelt und zerstört hatte. Es war eine berührende Erfahrung, diese Transformation zu erleben und die Musik zu hören, die auf diesen Instrumenten gespielt wurde“, so Joey Burns. „Unsere Sprache und Kultur mag sich voneinander unterscheiden, am Ende aber haben wir alle denselben Traum von Glück und Frieden in unseren Familien und Gemeinschaften.“ Die Musik von Calexico ist im Jahr 2015 mehr denn je der Soundtrack dieses Traums.

01. Falling from the Sky with Ben Bridwell (Band of Horses)

02. Bullets & Rocks with Sam Beam (Iron & Wine)

03. When the Angels Played with Pieta Brown & Greg Leisz

04. Tapping on the Line with Neko Case

05. Cumbia de Donde with Amparo Sanchez

06. Miles from the Sea with Gaby Moreno

08. Beneath the City of Dreams with Gaby Moreno

09. Woodshed Waltz with Greg Leisz

10. Moon Never Rises with Carla Morrison

11. World Undone with Takim

12. Follow the River with Nick Urata (Devotchka)

18.06.2015 Ulm - Ulmer Zelt

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