Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW26 | 23.06. bis 29.06.2014

Toujours

Artist: 
Sabina
Erschienen: 
05.06.2014
Label: 
Naim Edge Records / Indigo

Sabina Sciubba, bekannt als Lead-Sängerin der Grammy nominierten New Yorker Band Brazilian Girls (Verve Records/ Universal Music), veröffentlichte ihr Solo-Debütalbum Toujours am 06. Juni 2014 auf dem renommierten UK Indie Label Naim Edge Records!

Sabina Sciubba, die als Frontfrau der bis 2010 aktiven Avantgarde-Electro/Punk-Band Brazilian Girls bereits für einen Grammy nominiert wurde, wandelt ab sofort auf Solopfaden – und zwar durch die Straßen von Paris: Auf ihrem Debütalbum Toujours sprengt die Sängerin das Raum-Zeit-Kontinuum, wenn sie ihre bewusst schlank gehaltenen Art-Pop-Songs in sage und schreibe fünf Sprachen präsentiert und dabei kein Blatt vor den Mund nimmt. Durch und durch persönlich, verträumt, fast schon narkotisch und doch ganz unverblümt, klingt diese vertonte Parallelwelt wie das Pendant zu Velvet Underground und Nico, die im Paris des Jahres 2014 unterwegs sind – und dabei sehr viel mehr Humor haben, als man das von ihnen kennt.

„Ich hab ein Nacktfoto von mir gemacht, wie ich auf einem Schrank sitze, auf so einer französischen Ankleide“, erzählt sie lachend über das zum Teil animierte Video, das sie in schönster DIY-Manier zum Titelstück des Albums realisiert hat. Und wenn sie dann komplett nackt mit breitem Grinsen im Gesicht auf einem Esel durchs Bild reitet und dabei Ukulele spielt, muss man automatisch an Monty Python denken: „Vor allem die Fotos davon sind zum Schießen. Mein älterer Sohn hat sie gesehen und allein sein Blick sagte: ‘Verdammter Mist, jetzt ist sie komplett übergeschnappt.’“

Die deutlichen Ansagen und Meinungen, die sie in ihren Texten zum Ausdruck bringt, sind Sabina dabei genauso wichtig wie ihr ausgefeiltes Songwriting: Mit erhobenem Kopf redet sie Klartext, zeigt aber zugleich, dass sie auch über die nötigen Verführungskünste verfügt, um die Zuhörer für ihre Anliegen zu gewinnen. Überhaupt: Mit wie viel Nachdruck sie auf Toujours ihre Meinung sagt – auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Spanisch und Englisch –, macht ihren intelligenten Lo-Fi-Popsound so unglaublich eindringlich. Ähnlich kompromisslos wie andere Femme Fatales vor ihr – man denke an Patti Smith oder Madonna –, knüpft sie visuell und äußerlich eher an eine Grace Jones oder Björk an: Ein ziemlich aufgeblähtes Outfit von ihr erinnert z.B. eher an einen Belüftungsschacht, angefertigt aus Krepp...

In Rom als Tochter eines deutsch-italienischen Paares geboren, zwischen München und Nizza aufgewachsen, wurde Sabina schon als 19-Jährige vom Gitarren-Gott Antonio Foricone entdeckt und wanderte bald darauf nach New York aus, wo sie schon wenig später am Mikrofon der Brazilian Girls den Ton angab (genau genommen gab’s nur ein einziges Girl in der Band, Sciubba, und kein einziger Musiker stammte aus Brasilien). Toujours entstand jedoch nicht in NYC, sondern in ihrer heutigen Wahlheimat Paris, wo die Sängerin ihre Songs auf der Gitarre komponierte und sich für die Aufnahmen Frederick Rubens an die Seite holte, der schon für die Brazilian Girls hinter den Reglern gestanden hatte. „Das alles hat sich wie von selbst ergeben. Hat zwar über ein Jahr gedauert, aber ich habe auch nur dann Aufnahmen gemacht, wenn ich wirklich in der Stimmung dazu war, wenn’s mir quasi unmöglich war, keine Aufnahmen zu machen. Ich wollte auch keinen Firlefanz auf dem Album: Vier Elemente pro Song, das sollte genügen. Man kann mich zwar einen Control-Freak nennen, aber wenn ich etwas kontrollieren will, dann nur, dass auch alles schön dreckig und ungekünstelt bleibt“, erzählt die zweifache Mutter, die seit inzwischen fünf Jahren in Paris lebt.

„Ja, ich habe meine Wurzeln verlassen und bin in den letzten 20 Jahren ziemlich weit herumgekommen. Aber jedes Mal, wenn ich Europa verlasse, bete ich nur: ‘Lass mich bloß nicht außerhalb von Europa sterben.’ Ich bin halt eine echte Europäerin. Hier will ich irgendwann begraben werden.“

Das Ergebnis ihrer Pariser Songwriting-Experimente klingt nach New Yorker New-Wave-Repräsentanten, die mit Serge Gainsbourg eine durchzechte Nacht erleben – in irgendeiner Absturzkneipe der Weimarer Republik, in der Marlene Dietrich gerade mit überraschendem Art-Punk-Einschlag das glotzende Volk in ihren Bann zieht. Schon auf dem Eröffnungs-Track „Cinema“ wirft sie einen Blick auf die heutige Zeit und beklagt den kulturellen Niedergang am Beispiel des Kinos, das auf sie wie „an old whore who has lost her charms“ wirkt, während der gedrosselte Stoner-Track „The Sun“ mit ihrer tiefen Stimme und minimalistischen Gitarren-Sprenkeln dazu einlädt, sich einfach mal darin zu verlieren. Nachdenklich, wunderbar trist und mit einer Überdosis Galgenhumor durchzogen, erzählt „Fields Of Snow“ eine Liebesgeschichte und erteilt der Enthaltsamkeit dabei eine klare Absage: Man kann den Text über fehlende Mittel auch auf die Einschnitte der französischen Regierung beziehen – oder auch auf unsere digitale Ära, in der sich Kunstschaffende immer häufiger dazu gezwungen sehen, alles „for free“ zugänglich zu machen.

„Grausam ist das“, sagt sie dann, „ich und mein ganzer Freundeskreis, wir alle leben in einer eher schicken Gegend, und wir alle sind permanent pleite – was natürlich keiner offen zugeben würde! Ich muss zwar nicht gerade hungern, aber verglichen mit dem Lebensstandard vor fünf oder acht Jahren, habe ich heute einfach mal viel weniger Geld zur Verfügung.“

Doch genau darin liegt die Schönheit von Toujours: Während sie an die Filmsoundtracks eines Ennio Morricone und zugleich an das gesangliche Erbe einer Edith Piaf anknüpft, weiß man bei Sabina trotz der vielen Sprachen sofort, was ihr gerade unter den Nägeln brennt. Ihre Meinung zum Internet wäre da nur ein Beispiel, denn die digitalen Veränderungen bezeichnet sie als „grundlegendes Problem“, das so niemand hätte vorhersehen können: „Menschen reagieren nun mal auf Reize, auf Bewegungen, auf Licht – man schaut dann automatisch hin“, meint sie, „und das Internet macht letztlich dasselbe: Man muss einfach hinschauen, weil wir nun mal so gestrickt sind. Ich finde, wir sollten uns stattdessen direkt austauschen, zusammen Musik machen, neue Instrumente lernen. Nur mir gelingt es ja nicht mal, meine Kinder von YouTube fernzuhalten. Ich hab, was dieses Problem angeht, sogar schon terroristische Maßnahmen in Erwägung gezogen!“

Während die Brazilian Girls eher dafür bekannt waren, die Tanzflächen in Europa und den USA in Brand zu versetzen, schaltet Sciubba auf ihrem Soloalbum bewusst einen Gang runter und gibt ihrer einzigartigen Stimme den nötigen Raum, um sich zu entfalten. „Bei unseren Shows mit den Brazilian Girls habe ich manchmal gedacht: ‘Wie sollen die Leute denn meine Stimme hören, wenn sie nur tanzen und herumschreien?!“ Ihr Faible für den Gesang ist kaum verwunderlich, wo sie doch schon als Kind „unbedingt Michael Jackson heiraten wollte“, um wenig später schon bei Jazz-Sängerinnen wie Billie Holiday und abseitigeren Electro- und Pop-Acts zu landen. „Ich gehe immer bis zum Extrem: Wenn ich etwas mag, dann höre ich das bis zum Abwinken, bis zur Überdosis.“

„Noch immer viel zu idealistisch veranlagt“, wie sie sagt, hält sie nach wie vor nichts von Kompromissen und setzt auf Toujours auf bedingungslose, absolute kreative Freiheit – einen Ansatz, den man auch live bewundern kann, wenn sie dieses Jahr mit ihrer Band auf Europatour geht.

Tracklisting:
Cinema
Viva L’Amour
Long Distance Love
Mystery River
The Sun (feat. Adanowsky)
Non Mi Aspettare
Toujours
Tabarly
Sailor’s Daughter
Fields of Snow
I Won’t Let You Break Me
Going Home

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