Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW43 22.10. - 28.10.2018

Broken Politics

Artist: 
Neneh Cherry
Erschienen: 
19.10.2018
Label: 
Smalltown Supersound
Was ist zu tun in Zeiten des Umbruchs? Wie haben wir uns zu verhalten? Und wonach bemisst sich das Potenzial jedes einzelnen, wenn es darum geht, sich einzubringen, die Dinge zu verändern? Welche Maßnahmen müssen wir, wo doch das Signal-Rausch-Verhältnis mehr denn je aus dem Ruder gelaufen ist, ergreifen, um uns in Erinnerung zu rufen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein – und was ist nötig, um dieses Ideal zu bewahren? Das fünfte Soloalbum von Neneh Cherry, Broken Politics, verhandelt diese und andere, damit verbundene Fragen; die Sängerin sucht behutsam und geduldig nach Antworten, und sie hat auch keine Angst davor, dass es auf einzelne Aspekte womöglich keine einfache Antwort geben kann. Zugleich wütend und bedacht, melancholisch und ermutigend, setzen Cherry und ihre Albumgäste für Broken Politics alles daran, die existierende Klangpalette abermals zu erweitern – und landen so bei einem komplett einzigartigen, ungemein aufgeladenen Electro-Pop-Sound, der diese großen Fragen perfekt untermalt.  

Die Arbeit an Broken Politics begann Neneh Cherry gleich nach dem Ende der ausgiebigen Tour, die sie zum Vorgänger Blank Project (2014) angetreten hatte; entscheidend war dabei das Bedürfnis, die für das vorangegangene Album begonnene Zusammenarbeit mit Kieran Hebden (Four Tet) und dem Producer-Duo Rocketnumbernine fortzusetzen. „Das letzte Album klang sehr viel wütender, sehr viel wuchtiger. Das hier ist im Vergleich deutlich ruhiger und reflektierter“, meint Cherry. „Ich war nicht immer so gut darin, die Dinge so zügig auf den Punkt zu bringen, und auch jetzt hat es immer noch lange genug gedauert – aber das ist auch okay so.“ Nach einer ersten Songwriting-Session mit ihrem angestammten Co-Autor Cameron McVey, die schon Ende 2016 stattfand, schickte die Sängerin ihre ersten Demos an Hebden, der damals gerade auf dem Rückweg nach New York City war, nachdem er eine Hochzeit in Los Angeles besucht hatte. 

Cherry, McVey und Hebden zogen danach weiter nach Woodstock im US-Staat New York, wo sie eine Woche lang im Creative Music Studio Aufnahmen machten, dem Studio des Jazzpianisten Karl Berger, der schon in den Sechzigern in der Band von Nenehs Vater Don Cherry mitgespielt hatte. „Mit ihnen dort gemeinsam im Studio zu sein, das fühlte sich einfach absolut vertraut an – vollkommen ungezwungen“, so ihr Kommentar über die Arbeit im Studio von Karl, jenem alten Freund der Familie, und dessen Frau Ingrid. „Es war dort ganz einfach, in mich hineinzuhorchen und die Gefühle aufzuspüren, die wichtig waren, um mich auf die jeweiligen Stücke einlassen zu können. Abends aßen Cameron und ich dann zusammen mit Ingrid und Karl, wobei sie Geschichten von meinem Vater erzählten. Die Fäden gingen also schon sehr tief und sehr weit zurück.“ 

„Für mich war das eine der besten Schreibphasen seit langer, langer Zeit“, sagt Cherry weiter über die Entstehung von Broken Politics. „Endlich konnte ich diese Warteposition verlassen und mich bewegen, zum Kern vordringen. Und es war cool, dieses erste Material im Studio zum Leben zu erwecken, während mir zugleich die Inspiration kam für weitere Songs, um das Album zu vervollständigen.“ Wie bei so vielen großen Kunstwerken basierte diese Inspiration darauf, dass Cherry ihren Blick auf jene Gebiete richtete, wo Persönliches und Politisches zusammenkommen und einander überlappen. 

„Ich bin da ja immer eher vorsichtig bei so großen Themen, weil das ganz schnell so rüberkommen kann, als ob ich mir anmaßen würde, eine Lösung des Problems zu haben – und wer, verdammt noch mal, hat schon derartige Lösungen?“, sagt Cherry, wenn man sie auf den Titel des neuen Longplayers anspricht. „Ich schreibe meine Songs am liebsten aus meiner eigenen Perspektive, und die Ära, in der wir gerade leben, in der dreht sich so vieles um die Frage, wie man seine eigene Stimme finden kann. So viele Menschen haben das Gefühl, nicht gehört zu werden, sie fühlen sich missverstanden und sind dementsprechend enttäuscht. Und was zur Hölle kann ich daran schon ändern? Vielleicht beginnt das Politische tatsächlich im eigenen Schlafzimmer, in den eigenen vier Wänden – als eine Form von Aktivismus, als ein Gefühl von Verantwortung. Dieses neue Album handelt von genau diesen Dingen: diesen Bruch zu fühlen, diese Enttäuschung und Trauer – aber es geht auch um Beharrlichkeit, ums Weitermachen. Es ist ein Kampf gegen die Vernichtung des freien Willens, des freien Denkens.“ 

Taucht man ein in die klanglichen Komplexitäten von Broken Politics, wird schnell klar, dass auch die anderen Beteiligten (Producer, Musiker etc.) an der Seite von Neneh Cherry in diesen Kampf ziehen wollten. „Was ich am meisten an unserem kreativen Ansatz liebe, ist, wie gut wir uns zügeln können“, schwärmt die Sängerin von der Songwriting-Phase mit McVey, mit dem sie schon vor der Veröffentlichung ihres Debüt-Meilensteins Raw Like Sushi im Jahr 1989 zusammengearbeitet hat. „Ein ehrlicher Trip war das bis hierhin.“ „Neneh ist die Art von Songwriterin, auf die Songwriter stehen“, meint ihr angestammter Co-Autor, „und ja, unsere Kreativpartnerschaft war echt ein Trip. Eine magische Reise, auf der wir uns nun schon so viele Jahre befinden, und doch verblüfft sie mich immer wieder mit ihren Worten und ihren Melodien.“ 
 
Auch Kieran Hebdan spielte eine zentrale Rolle während der Entstehung von Broken Politics: Sämtliche Songs wurden dieses Mal von ihm produziert. „Sie hatte die Akkordfolgen mehr oder weniger fertig, dazu gab’s fertige Vocals, und sie hat mir dann Demos von diesen Aufnahmen geschickt, die sie zu Hause gemacht hatte. Teilweise waren’s auch nur Telefonmitschnitte“, so Hebden. „Ich habe mir darauf basierend dann ein passendes Arrangement und eine Instrumentierung ausgedacht. Ganz am Schluss gingen wir dann zusammen ins Studio und nahmen den Gesang auf, um ihn über mein Arrangement zu legen.“ 

„Ich war so froh, dass er noch ein weiteres Album mit mir machen wollte“, sagt Neneh Cherry über die Arbeit mit dem renommierten Produzenten. „Er ist auf wunderschöne Art und Weise ernst und fokussiert, und er macht wirklich nur dann etwas, wenn er auch zu 100% davon überzeugt ist. Sein ganzes Herz fließt mit ein in seine Projekte, und er denkt weit über die Songs hinaus.“ 

Die Sounds von Broken Politics weisen tatsächlich einen enormen Tiefgang und eine extreme Bandbreite auf – angefangen beim Gebrause des Eröffnungssongs „Broken Leaves“ bis hin zu den Holzbläser-Formationen, die den straffen, vielschichtigen Aufbau von „Slow Release“ durchziehen. Insgesamt zeichnet das gesamte Album etwas Zurückhaltendes aus, was die Spannung nur noch größer macht, während Cherry ihre leidenschaftlichen, gedankenvollen Texte präsentiert. 

Der Song „Kong“, den sie mit 3D von Massive Attack aufgenommen hat, umkreist jene „Ignoranz“, die in der eskalierenden Lage in den Flüchtlingslagern bei Calais ersichtlich wurde. „Immerhin waren da so viele Kinder, die alle ohne ihre Eltern quasi dort geparkt waren. Sie sollten eigentlich nach England gebracht werden, wo ihnen geholfen werden sollte, aber dazu kam es nie. Die Leute gehen immer davon aus, dass Flüchtlinge irgendwo ankommen, um dort ein System auszunutzen – als ob sie nicht auch Dinge zurücklassen müssten, die sie lieben. Ich versuche nun, ein Bild davon zu malen, mich in diese Geschichte einzufühlen, und in diesem Fall stelle ich mir nun vor, ein Mensch zu sein, der eigentlich gar nicht den Ort verlassen will, an dem er lebt.“ Mit dem Song „Shotgun Shack“ äußert sie sich zum ewigen (und immer auch global relevanten) Thema Waffengewalt. Titelgebend war in diesem Fall ein letzter Erinnerungsfetzen an ein Gespräch, das Cherry bei der Beerdigung von Ornette Coleman hatte. „Ich weiß gar nicht mal mehr so genau, wer es zu mir gesagt hat, aber ich dachte sofort: ‘Shotgun Shack’ – was für ein cooler Ausdruck!“, erzählt sie und muss lachen. Dabei ist das Thema natürlich alles andere als lustig: „Ja, es geht um Waffenkultur, um die Idee von Kriegsgebieten und um die vielen Tragödien, die Waffengewalt dort auslöst“, so Cherry. „Mehr noch: Es geht um die ganzen Geschäfte mit Waffen. Um Street-Kultur. Waffen sind so krass. Sie haben diese Macht – sind so gefährlich und können alles schlagartig ändern. Die Waffe ist einfach da, in der Tasche, zusammen mit all den anderen Dingen, die wir tagtäglich bei uns tragen, und es ist so einfach, diese fehlgeleitete Energie einer Waffe zu missbrauchen.“

Das Stück „Faster Than The Truth“ hingegen, mit seinen massiven Hallräumen und sich anbahnenden Snares, bringt wohl am besten den freien Spirit und die ganze Neugier auf den Punkt, die Broken Politics ausmacht. „Als ich den Song anfing, war das so, als ob mein Körper plötzlich mitten in der Wüste gelandet wäre, von wo aus ich nun losziehen sollte – Richtung Norden“, so Cherry. „Es ist die Perspektive einer Frau, und zugleich eine Reaktion auf Leute, die einen so behandeln, als ob man aus falschen oder vorgeschobenen Gründen hilfsbedürftig wäre. Ich verlange ja gar nicht, dass du meine Mutter bist oder mein Liebhaber – ich will bloß ein offenes Ohr. Denn ich bin hier, und ich gehe auch nicht einfach so weg.“ 

„Ich habe einen Namen. Du hast einen Namen. Wir sind nicht bloß irgendwelche gesichtslosen Hügel, die man irgendwo aufwirft“, sagt Cherry schließlich, um die Kernvision von Broken Politics in Worte zu fassen. „Wir alle sind Menschen. Menschen, die ein Leben haben. Die Geschichten zu erzählen haben.“ Kunst kann uns daran erinnern, wie es sich anfühlt, im Moment zu leben. Und sie kann einem dabei helfen, derartige Momente zu bewahren. Auf Broken Politics begegnet man einer Neneh Cherry, die noch nie so einträchtig und wohlwollend gegenüber jener Welt klang, die ja schließlich meistens alles andere als das ist. Der Refrain von „Fallen Leaves“ spricht in diesem Fall Bände, und er trägt ganz klar ihre Handschrift, verkörpert ihre ganze Haltung: „Just because I’m down/Don’t step all over me.“ 

Tracklist: 
1Fallen Leaves
2Kong
3Poem Daddy
4Synchronised Devotion
5Deep Vein Thrombosis
6Faster Than The Truth
7Natural Skin Deep
8Shot Gun Shack
9Black Monday
10Cheap Breakfast Special
11Slow Release
12Soldier
Tourdates: 
02.11.2018Hamburg – Überjazz / Kampnagel
19.02.2019Köln – Kulturkirche
20.02.2019Berlin – Festsaal Kreuzberg

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