Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW 09 26.02.-04.03.2018

Dear Annie

Artist: 
Rejjie Snow
Erschienen: 
15.02.2018
Label: 
BMG / Warner

Im ersten Reflex könnte man Rejjie Snow wahrscheinlich als Rap-Künstler bezeichnen. Ein Attribut, das rein technisch gesehen auch völlig zutreffend ist. Der einzige Knackpunkt: Er selbst würde sich keinesfalls dieses Label aufdrücken, erscheint die Bezeichnung als Rapper für ihn doch viel zu simpel. Rejjie Snow ist anders. Ganz anders. Eine Tatsache, die man ihm schon sehr schnell anmerkt. „Ich war eigentlich überzeugt davon, wegen meiner irischen Herkunft auf der Schwarzen Liste des HipHop zu landen“, grinst Snow. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs der unzähligen Dinge, die ihn von anderen Rappern unterscheiden. Nicht nur, dass er als einziger schwarzer Jugendlicher im Norden Dublins aufwuchs; eine trostlose Gegend, in der es eigentlich keine Musikszene gibt. Bisher: Rejjie repräsentiert seine ganze eigene Szene. Er lebt gerade da, wo auch immer sein Koffer zum Liegen kommt. Da, wohin ihn seine Lieder schicken: Los Angeles, New York, London. Snow nimmt schon Platten auf, während er noch an anderen Scheiben arbeitet. Und umgekehrt. Knüpft aus Worten und Phrasen herrlich komplexe Lyric-Knoten, in denen er Teile seiner eigenen Biographie mit fiktiven Parts vermischt und das Ganze mit jeder Menge verregneter Loops, wie in Technicolor gezeichneter Keys und trippy Percussions anreichert. Und natürlich mit seiner sofort wiedererkennbaren Stimme: Tief und irgendwie nicht von dieser Welt, wenn er die Beats mit fast uhrwerksgleicher Präzision voran peitscht, gegen kantige Piano-Hooks anknurrt oder sich mit sexy groovendem Soul-Jazz-Rock vor der Ikone Prince verneigt. Wobei sich aber auch Größen wie George Michael oder Charles Bukowski als wichtige Einflüsse ausmachen lassen. Rejjie Snow entwirft seine eigene Fashion-Linie und malt. Er spricht bis heute vom Mond als seiner aller ersten großen Liebe. Statt einer aussichtsreichen Fußballerkarriere nachzugehen, ging er lieber mit Madonna auf Tour, nahm mit dem haitianischen Producer Kaytranada auf und avancierte nach der Vertragsunterzeichnung mit 300 Entertainment im Jahr 2016 schließlich zum Labelkollegen von schweren Jungs wie Young Thug und Fetty Wap. Rejjie Snow ist eben anders. Doch das sagten wir ja schon.

Wobei seine irischen Wurzeln in Rejjies Schaffen immer noch eine extrem wichtige Rolle spielen. Und in seiner Entwicklung zu dem stolzen und unerschrockenen Rap-Creator, der er heute darstellt. Aufgewachsen ist Rejjie Snow in einer perfekten Balance aus kindlicher Experimentierfreude – seine Eltern haben seine verschiedenen Interessen schon früh gefördert und auch die Nachbarschaft seines Vorortviertels in Drumcondra war ihm immer ziemlich wohl gesonnen – und die Kreativität beflügelndem Außenseitertum zwischen seinen vorwiegend weißen Freunden, die seinerzeit alle auf Techno abfuhren. Rejjies Eltern (sein Vater, ein Software-Entwickler, stammt ursprünglich aus Nigeria, während seine jamaikanisch-irische Mutter als Verkäuferin arbeitete) ermöglichten ihm den Besuch einer Theaterschule, wenn er nicht gerade Sport trieb. Durch den Soundtrack von Playstation- Spielen wie „Grand Theft Auto“ oder „Tony Hawk“ kam Rejjie erstmalig mit HipHop in Berührung; durch seinen Cousin aus Nigeria lernte er dann auch die Musik von Ikonen wie den mächtigen Wu-Tang Clan oder Rap-Visionär Nas kennen. Außerdem durchkämmte er regelmäßig YouTube nach den neuesten Clips seiner Lieblingskünstler (zu deren einflussreichsten damals definitiv MF Doom zählte), die er im stillen Kämmerlein vor dem Computerschirm zu imitieren versuchte. Mit 17 buchte er schließlich zum ersten Mal ein wenig Studiozeit zum Aufnehmen, und handelte sich gleichzeitig mit seiner Leidenschaft für wildes Graffiti-Sprayen eine geballte Ladung Ärger ein. Für ihn jedoch kein Grund, das angebotene Stipendium an einer Sportschule in Florida auszuschlagen, sondern wenig später in den amerikanischen Sunshine State umzuziehen. „Ein paar Monate, bevor ich in die Staaten ging, veröffentlichte ich einen meiner Tracks auf YouTube“, erzählt Rejjie über den Online-Release von „Dia Dhuit“ (das vom Gälischen übersetzt so viel wie „Hallo“ bedeutet), das er seinerzeit noch unter seinem damaligen Künstlerpseudonym Lecs Luther herausbrachte. „Plötzlich hatte der Song über 50.000 Views im Monat und ich bin irgendwo da draußen auf dem Platz und versuche, Fußball zu spielen!“ Nachdem er ein Jahr später zum renommierten Savannah College Of Art And Design übergewechselt hatte, hielt eines Tages überraschend ein auffällig unauffälliger, schwarzer SUV vor seiner Schule. Die Insassen: Mitarbeiter der Management-Company eines gewissen Elton John, die Rejjie noch während des laufenden Unterrichts zum Gespräch über seine weitere Zukunft in ihr Office baten. Unnütz zu erwähnen, dass Snow sein Studium ohne große Überredungskunst an den Nagel hängte, um sich fortan ganz auf seine Musik zu konzentrieren. Eine Entscheidung, die einen weiteren Umzug - diesmal nach London - mit sich brachte. Inklusive ausgedehntem Couch-Surfing bei Freunden und dem Aufbau einer Soundcloud-Community von gleichgesinnten Künstlern. Nützliche Verbindungen, die Rejjie durch schier unglaubliche Zufälle zu einer wahren Fundgrube unveröffentlichter Kollaborationen seines Kumpels, dem britischen Sänger King Krule, führte: Seine eigentliche künstlerische Geburtsstunde, in der aus Alexander Anyaegbunam schließlich Rejjie Snow wurde!

2013 erschien unter diesem Namen die „Rejovich“- EP, die für einen kurzen Moments des Fames sogar Größen wie Kanye West und J. Cole in den iTunes HipHop- Charts hinter sich ließ. Doch statt sich wie viele andere Kollegen im Ruhm zu baden, verschwand Rejjie, der von sich selbst sagt, extrem schüchtern zu sein, erst einmal von der Bildfläche, um diverse Familienangelegenheiten zu regeln und seine Karriere auf dem Off richtig durchzuplanen. 2015 feierte er sein Comeback als Supportact für Popqueen Madonna, für die er auf ihrer „Rebel Heart“-Tour eröffnete. Ein verhängnisvoller Slot, der sich für Rejjie als echte Katastrophe entpuppte, wie er heute offen zugibt. „Mein Sound war einfach nur schrecklich abgemischt. 20.000 Leute haben mich aus voller Kehle ausgebuht.
Ich frage mich immer noch, warum sie ausgerechnet mich angerufen hat.“ Ein Desaster, das jedoch auch seine guten Seiten hatte: Neben der Inspiration zu seiner kraftvollen Live- Backingband wurde die Show von einer ganzen Palette neuer Songs begleitet: Angefangen beim Neptunes/ Pharrell-beeinflussten „All Around The World“, das unter der Ägide von Cam O`bi (SZA, Chance The Rapper) produziert wurde und für dessen Clip man Johnny Depps Tochter Lily-Rose gewinnen konnte. Über die verstolperte Kaytranada- Zusammenarbeit auf dem Multikulti-Lovesong „Blakkst Skin“, bis zur Mutmacher-Hymne „Keep Your Head Up“.

Für die Produktion der Nachfolge-Singles wurde der Grammy-ausgezeichnete Mischpult-Experte Rahki (Kendrick Lamar u.a.) verpflichtet: So verhandelt das zurückgelehnte, G-Funk-inspirierte „Crooked Cops“ die zeitweise in den Staaten explodierende Polizeigewalt, während sich „Flexin`“ als hypermoderne, Trap-infizierte Kraftprobe seinen Weg durch die Gehörgänge bahnt. Das walzende „D.R.U.G.S.“ konnte auf YouTube bereits die magische 4-Millionen-Marke knacken und auch das Follow-Up-Outtake „Pink Beetle“ ist auf dem besten Weg zu großer Popularität – wurde der Track doch kurz nach Release von BBC 1-Radiohost Annie Mac zum „Hottest Record In The World“ gekürt. Doch statt sich wie beim vorherigen Mal der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entziehen, schob Rejjie 2017 das Mixtape „The Moon & You“ hinterher: Ein experimentelles Monster, mit dem sich Snow trotz eines hart abgefeierten Joey Bada$$-Cameos seinen Platz im Lager von eher unkategorisierbaren, progressiven Crossover-Acts wie Shabazz Palaces, Anderson .Paak oder Thundercat suchte. „Der Shit musste einfach aus mir raus“, so Rejjie weiter. „Ich bin ein sehr impulsiver Mensch. Und genauso komponiere ich auch. `Moon` entstand in nur drei Wochen...“ Und obwohl Snow steif und fest von sich behauptet, kaum noch aktuellen Rap zu hören, hat er erfolgreich geschafft, dieser Kunstform in weniger als einem Monat einen ganz neuen Stempel aufzudrücken – seinen eigenen! Mit seinem ungeduldig erwarteten Debütalbum „Dear Annie“ macht Rejjie Snow nun den nächsten Schritt. Geschrieben und aufgenommen in Los Angeles, London und Paris, stellt das 20 Tracks starke Album ein Genre-überspannendes Opus Magnum dar, das unter der Mithilfe von Producern wie Kaytranada, Cam O`bi, Rahki und Lewis Ofman entstand. Veredelt werden die Tracks von einer handverlesenen Entourage gleichgesinnter Special- Guests wie dem aus Portland stammenden Rap- Kraftpaket Aminé, dem Londoner HipHop-Freak Jesse James Solomon und der norwegischen Eisprinzessin Anna Of The North. Zeitnah zu seiner ausgedehnten Europa-Tour erscheint „Dear Annie“ am 16. Februar 2018. Auf „Dear Annie“ lädt Rejjie Snow seine Hörer ein auf eine surreale Reise in die Tiefen seiner Seele. Ein Album irgendwo zwischen Coming-Of-Age eines Ausnahmekünstlers und einer wilden Achterbahnfahrt der Gefühle: Angefangen bei der Realitätsflucht auf „Egyptian Luvr“ und „Mon Amour“, über das sphärische „Spaceships“ und „Rainbows“, bis zum tief bohrenden Herzschmerz in „Room 27“ und schließlich „The End“ stellt „Dear Annie“ das bilderstarke Gefühlslogbuch eines 23- jährigen Ausnahmekünstlers dar. Ein Ausnahmekünstler, dessen Reise gerade erst begonnen hat.

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