Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW 20 17.05. - 23.05.2021

Delirium

Artist: 
Fatoni & Edgar Wasser
Erschienen: 
07.05.2021
Label: 
LOL Records

Es ist 2021 und alle bleiben drin. Nur zwei lassen raus, was sich angestaut hat: Fatoni & Edgar Wasser haben sich in ein Studio gesperrt, die Egos poliert und sich gegenseitig angestachelt. Mit Wut und Witz rappen sie sich ins „Delirium“. Am Ende steht ein großer Mittelfinger ans Jetzt. Und eine innige Umarmung zweier Freunde. Das Album als Gegenmittel. „Delirium“ kommt genau deshalb zum richtigen Zeitpunkt: Weil es eine einzige Punchline ist. Sobald es im Opener „Ratatatatatatatatat“ macht, werden Schel-lélélé-n an Deutschrap verteilt, es wird mit Männern gekuschelt, es wird alle 11 Minuten eine Mutter beglückt. Es werden Taxis bestellt, weiße Privilegien demonstriert und demontiert und AfD-Spinner zur Seite geschoben. Man will genau das gerade hören, in diesen gottverdammten Tagen, weil man selbst so vieles davon fühlt. „Delirium“ ist schon damit ein Selbstläufer. Aber dann hört man die zwölf Tracks lange Punchline zweimal, dreimal, viermal, und plötzlich ist da noch eine ganz andere Story, zwischen den Zeilen. Eine Geschichte, die viel zeitloser ist und die so nur von Fatoni & Edgar Wasser erzählt werden kann. Es ist eine Geschichte über Freundschaft – mit allem, was zu einer ordentlichen Freundschaft gehört.

Nüchtern gesehen dürfte dieses Album nicht existieren. Hier kommen zwei kreative Dickschädel zusammen, die sich im Wesen nicht doller unterscheiden könnten. Auf der einen Seite steht Fatoni, der sich gerne den Kopf darüber zerbricht, was die anderen sagen. Ihm gegenüber: Edgar Wasser, der immer den Weg nimmt, auf dem sonst niemand spaziert. Den einen zog die Musikindustrie in die Hauptstadt, von dem anderen weiß man eigentlich nie, was er gerade tut – geschweige denn, wo er überhaupt lebt. Aber eine gute Freundschaft braucht nun mal Differenzen. Überhaupt, es ist 2021, wer ist schon nüchtern? Apropos 2021: Man muss an der Uhr drehen, um diese Beziehung zu verstehen. München vor etwas mehr als zehn Jahren. Damals, in der alten Welt, war das mit den gemeinsamen Werten noch einfach: Fatoni genoss ein bisschen lokalen Fame mit seiner Crew Creme Fresh. Den Namen Edgar Wasser kannten nur ein paar enge Vertraute. Aber was zählte, waren Talent und gegenseitige Sympathie. Fatoni traf Edgar und war Fan. Er buchte ihn als Show-Support. Und aus Edgar Wasser wurde ein Phänomen. Jede und jeder wollte mehr hören von diesem viel zu talentierten Antihelden, der uns die Welt in seinen zynischen Lyrics ein Stück weit verklärte. Der Hype war real.

Fatoni erlebte derweil den Dämpfer, den jede gute Erfolgsgeschichte wohl braucht: Seine Crew löste sich in Luft auf. Einer der talentiertesten Rapper des Landes war im Inbegriff, mit seiner Karriere abzuschließen und sich stattdessen am Theater in Szene setzen zu lassen. Wäre da nicht Edgar Wasser gewesen. Der nutzte die Hysterie um seine Persona und verlieh der Solokarriere von Fatoni einen ordentlichen Push – mit dem gemeinsamen Album „Nocebo“. Vor acht Jahren sammelten die beiden eine Handvoll Boombap-Beats von Freunden ein und sezierten darauf ihr Leben als Untergrundhelden. Deutschrap lachte laut auf, und das, obwohl es der Kultur gerade wirklich nicht gut ging. Was nach „Nocebo“ passierte, war unvorhersehbar: Fatoni stand vor einer tatsächlichen Karriere. Zum ersten Mal hieß es nicht nur leben für HipHop, sondern auch von HipHop. Mit zwei Klassikeralben („Yo, Picasso“ 2015, „Andorra“ 2019), einem Mixtape und ein paar EPs zementierte er seinen Ruf als eines der größten Raptalente hierzulande – direkt nach Edgar Wasser, natürlich. Nur Letzterer wollte von alldem erst mal gar nichts, vor allem keine Karriere. (Quelle: Checkyourhead)

Nun also, nach Jahren des Wartens, in einer ganz neuen Welt, ist da plötzlich „Delirium“, ein zweites Album zu zweit. Riesengroßer Zufall oder von langer Hand geplanter Coup? Sagen wir so: Sie haben es nicht früher geschafft. Zum Glück! Denn „Delirium“ hätte zu keinem Zeitpunkt so viel Spaß gemacht wie in diesem Moment. Zuerst das Offensichtliche: Was beim letzten Mal noch nach Musik für Crate-Digger und Dogmatiker klang, ist heute auf dem Zenit des Zeitgeist. Die Basslines drücken, die Drums rattern. Produzent Enaka gibt als Executive Producer den Ton an. An der Seite von Freunden und Bekannten wie Torky, Dexter, MRBX, Mine, Nico K.I.Z und den Drunken Masters schafft er das Fundament, auf dem sich die Punchlines von Fatoni und Edgar Wasser zu Catchphrases verselbständigen. Klar, Songs wie „Alle 11 Minuten“, „Der Beste“ und „Freierssohn“ waren thematisch auch vor Jahren denkbar. Nur wären sie niemals diese Hits geworden, die sie nun auf „Delirium“ sind. Dann die Protagonisten: Noch vor einigen Jahren hätte Fatoni nicht so lässig mit seiner Stimme gespielt, wie er es nun auf Songs wie „Homie du weißt“, „Newcomer des Jahres“ oder „So High“ tut: Tief, hoch, schnell, langsam, rappen, und ja, singen, er kann all das, ohne Witz – und mit. Und Edgar: frei von Deutschrap-Zwängen und verkopften Songthemen lässt er endlich wieder die Geistesströme fließen wie, nun ja, H O.

„Das Leben ist dumm“ ist vielleicht der Schlüsselsong dieses Szenarios. Nach zehn Songs voller Ego und Entrüstung löst sich „Delirium“ auf einmal in einem Moment von Pop und Prosa auf: Auf einem Gitarrenloop lässt Fatoni seinen inneren Songwriter aufblitzen, während Edgar die Motivationstattoos mit dem lyrischen Laser bestrahlt. Der Stress und die Mühen, mit denen wir unser Leben bestreiten, all das macht doch am Ende eigentlich gar keinen Sinn, stellen die beiden fest. Und doch würden sie keinen Tag ihres Lebens missen wollen. So simpel die Erkenntnis, so ehrlich der Song. Plötzlich versteht man: Weder Fatoni noch Edgar Wasser hätten „Delirium“ schon mal machen können, nicht vor Jahren, und erst recht nicht alleine. Damit wir uns nichts vormachen: „Delirium“ ist ein Album für die, die drauf gewartet haben. Diese Platte ist für jeden einzelnen Fan, der nach jedem einzelnen Fatoni-Konzert am Merchstand nach dieser Reunion schreit. Aber „Delirium“ ist auch für ganz viele andere Menschen: Menschen, die streiten wollen. Menschen, die andere Menschen lieben. Menschen, die sich positionieren. Menschen, die Freundschaft vor kalkulierte Moves stellen. Und Menschen, die einfach mal für siebenunddreißig Minuten den Verstand verlieren wollen. Ein herzliches Willkommen an all diese Menschen im „Delirium“.

Tracklist: 
1Ratatatatatatatatat
2Alle 11 Minuten
3Homie du weisst
4Der Beste
5Newscomer des Jahres
6Freierssohn
7Danke für dein Feedback
8So High
9Realität
10YOLO
11Das Leben ist dumm
12Künstlerische Differenzen

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