Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW 26 24.06-30.06.2019

Flamagra

Artist: 
Flying Lotus
Erschienen: 
24.05.2019
Label: 
Warp Records

Es ist tatsächlich schon knapp fünf Jahre her, seit Flying Lotus mit You’re Dead! sein letztes Album vorgelegt hat, ein komplexes Leichen-Tetris, ein Werk über Leben und Tod, das ihm sogar eine Grammy-Nominierung bescheren sollte. Dabei war der in Los Angeles lebende Künstler in der Zwischenzeit alles andere als untätig: Er hat zum Beispiel an Kendrick Lamars Album To Pimp A Butterfly mitgewirkt, hat die Horror-Komödie Kuso, die vor zwei Jahren beim Sundance Festival Premiere feierte, geschrieben und dafür Regie geführt; schließlich saß er als Produzent für weite Teile von Thundercats Drunk-Album hinter den Reglern. Obendrein hat er dafür gesorgt, dass sein eigenes Brainfeeder Label zu einem der innovativsten Klanglabors der Welt avancieren sollte. Ja, und dann war da ja noch die Sache mit seinem nächsten Albumstatement.

Womit wir bei Flamagra wären, seinem neuen Album für Warp: Ein Longplayer, der alle kreativen Quantensprünge, all die innovativen Elemente der letzten 12 Jahre in Lotus’ Karriere aufgreift und sie weiterdenkt. Die groben Eckpfeiler kennt man: Hip-Hop, Funk, Soul, Jazz, Electro, IDM, dazu die Ansätze der befreundeten Beatmaker aus L.A., gepaart mit Tribal-Elementen, Polyrhythmen... aber selbst eine Liste wie diese reicht nicht aus, um das Album auch nur ansatzweise zu verorten – weil es immer wieder ausbricht aus diesem Koordinatensystem. Abhebt in höhere Sphären. Und doch steht eines fest: Es ist ein FlyLo-Album. Die Handschrift ist unverkennbar. Womöglich ist es sogar sein
definitives Album: Ein astral-afrofuturistisches Meisterwerk zwischen Deep Soul, kosmischem Staub, bedingungsloser Originalität.

Die Gästeliste von Flamagra liest sich wie ein Traum: Anderson .Paak, George Clinton, Yukimi Nagano (Little Dragon), Solange, Tierra Whack, Denzel Curry, Ishmael Butler (Shabazz Palaces), Toro y Moi, schließlich sein musikalischer Stammesbruder Thundercat. Ja, selbst David Lynch ist an einer Stelle zu hören: Der legendäre Regisseur steuert ein paar schaurige Worte bei, eine düstere Erzählpassage, mit der er uns eindringlich warnt – „Fire is coming“. All diese unterschiedlichen Gastbeiträge fügen sich jedoch wie von Geisterhand zu einem Ganzen zusammen, angezogen und gekrümmt, unwiederbringlich assimiliert, sobald sie erst mal ins Lotus’sche Magnetfeld eingedrungen sind. Er zieht
sie alle in seinen Bann, integriert alles in sein eigenes Universum.

„Ich hab in den ganzen fünf Jahren immer wieder an neuen Ideen gearbeitet, aber zuerst ging das noch in vollkommen unterschiedliche Richtungen“, holt Flying Lotus aus. „Einen groben thematischen Rahmen hatte ich aber von Anfang an im Hinterkopf: Es sollte um Feuer gehen, um ein ewiges Feuer auf einem Hügel. Manche Menschen lieben dieses Feuer, andere hassen es. Die einen verabreden sich dort, die anderen nutzen es, um in den Flammen alte Liebesbriefe zu verbrennen. Und dann war ich auf einer Party und hörte, wie David Lynch genau die Worte sagte, die er nun auch auf dem Album sagt. Damit war für mich klar: ‘Das ist’s. In die Richtung müssen wir jetzt einfach weitermachen.’“

Was als bloße Ansammlung von Experimenten begonnen hatte, nahm so immer klarere Konturen an, wurde zu einer Vision. Die DNA von Flamagra sollte daraufhin zwar größtenteils aus den traditionellen Elementen des Hip-Hop entstehen, aber es gab auch ganz neue Einflüsse – zum Beispiel die Tatsache, dass sich FlyLo zuletzt intensiver mit dem Klavier beschäftigt hat.

Der Geist von Flamagra schlug von Monat zu Monat höhere Flammen. Im Herbst 2018 zum Beispiel waren es die überwältigenden Farben einer Kunstinstallation im teamLab in Tokio, die bei dem Producer genau jene unsichtbaren Türen wieder öffneten und jene Erinnerungen zurückbrachten, die man als erwachsener Mensch viel zu oft verdrängt: Mit einem Mal konnte er wieder sehen – und staunen – wie ein Kind. Auch die heilende Kraft der Musik, ihr Potenzial, physische Grenzen zu überschreiten, war plötzlich wieder da, zusammen mit der Erkenntnis, dass man wirklich Großes und Neues nur dann erschaffen kann, wenn man entsprechend große Träume und Visionen hat. Auf genau diesen Einsichten basiert Flamagra, das größer, epischer und universeller kaum angelegt sein könnte. Es ist das Resultat eines Freilegungsprozesses: Wie mit Hammer und Meißel, bis sich plötzlich die nächste wundersame Quelle der Inspiration auftut. Dann den Meißel neu ansetzen. Weitermachen. Erst sollte es ein 10-Track-Album sein, dann ein astreines Beatmaker-Album, komplett ohne Jazzsolos, und wer weiß, was noch für Varianten geplant waren. Bis Lotus klar wurde, dass dieses Album all diese Dinge umfassen musste, all die komplex-zerklüfteten Ideen und Emotionen, die in der verqualmten, lichtverschmutzten Luft des San Fernando Valley lagen. Sämtliche Gastbeiträge, bis auf
den von Yukimi Nagano, wurden in Lotus’ Homestudio im Valley aufgenommen – was man auch wirklich raushören kann, weil dadurch alles wie aus einem Guss klingt: Mal ist es George Clinton, der mit infernalischer Wahnsinnsstimme à la Ra auf „Burning Down The House“ am Mic zu hören ist, dann tritt Solange an seine Stelle und gibt sich wie ein himmlischer Tropfen Ambrosia („Land Of Honey“).
Oder .Paak, der auf lüsternen Soulsänger macht („More“). Thundercat mit einem angeschossenenFalsett aus der entferntesten Zukunft.

Sehr viel trauriger die Art und Weise, wie Mac Miller, der verstorbene Freund und Kollege von Lotus, auf dem Album auftaucht: Mit „Find Your Own Way Home“ und „Thank U Malcolm“ sind ihm gleich zwei Tracks gewidmet. „Dieses Album hat für mich ganz klar auch als Schutzort funktioniert, um Schmerzen aushalten zu können, und um diesen Schmerz auf die bestmögliche Weise in etwas Positives zu verwandeln“, sagt Lotus. „Musik kann heilen. Und erst nach seinem Tod wurde mir wieder klar, wozu ich eigentlich hier bin. Wenn man älter wird, begreift man irgendwann, welche Aufgabe man hat; und man nimmt sie an – ich möchte nämlich Gutes tun mit meiner Arbeit. Mir ist wichtig, dass sie anderen Menschen hilft, die vielleicht gerade eine schwere Zeit durchmachen, oder dass sie ihnen als Inspiration dient und sie dazu bewegt, selbst kreativ zu werden.“

Hier also kommt Flamagra: Das Werk eines Meisters, der viele andere Meister und Meisterinnen um sich versammelt hat. Eine Essenz des letzten Jahrhunderts im Bereich der afroamerikanischen Musik, vollkommen neu und weitergedacht, kollektiv gefiltert und feingeschliffen. Auch wenn Flying Lotus ein Nachkomme der ehrwürdigen Alice Coltrane ist, seiner Großtante, die einst mit John verheiratet war, wobei auch Miles und Madlib, Dilla und DOOM als seine Vorfahren gelten dürfen, hat er inzwischen seinen eigenen Kult geschaffen: Eine Gefolgschaft, die alles Geniale aus der Vergangenheit absorbiert und in Bereiche überführt, die sich die genannten Vorfahren nicht mal im Traum hätten ausmalen können. Flying Lotus ist zurück. Fire is coming.

Tracklist: 
1 Heroes
2 Post Requisite
3 Heroes In A Half Shell
4 More feat. Anderson .Paak
5 Capillaries
6 Burning Down The House feat. George Clinton
7 Spontaneous feat. Little Dragon
8 Takashi
9 Pilgrim Side Eye
10 All Spies
11 Yellow Belly feat. Tierra Whack
12 Black Balloons Reprise feat. Denzel Curry
13 Fire Is Coming feat. David Lynch
14 Inside Your Home
15 Actually Virtual feat. Shabazz Palaces
16 Andromeda
17 Remind U
18 Say Something
19 Debbie Is Depressed
20 Find Your Own Way Home
21 The Climb feat. Thundercat
22 Pygmy
23 9 Carrots feat. Toro y Moi
24 FF4
25 Land Of Honey feat. Solange
26 Thank U Malcolm
27 Hot Oct

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