Das Leben ist zu kurz
für eintönige Musik.

Platte der Woche

Coverbild: 
KW 28 08.07.-14.07.2019

Atlantic Oscillations

Artist: 
Quantic
Erschienen: 
21.06.2019
Label: 
Tru Thoughts

Diesen Sommer meldet sich der britische Producer und Multiinstrumentalist Quantic mit seinem neuen Album Atlantic Oscillations zurück: Seit inzwischen knapp zwei Jahrzehnten für seine Mischung aus Dance-/Electro- und orchestralen Live-Elementen zwischen Soul und Funk bekannt, denkt Will „Quantic“ Holland diesen Ansatz konsequent weiter, wenn er auch auf dem am 21. Juni erscheinenden Album einige Gastmusiker*innen und -sänger*innen um sich versammelt und zwischendurch sogar auf astreine Disco-Beats setzt. Inzwischen in New York City beheimatet, kassierte Quantic in den letzten Jahren nicht nur viel Lob von Guardian, MOJO, DJ Mag und Co., sondern erspielte sich mit etlichen Nebenprojekten und Kollaborationen auch eine massive globale Fanbase, zu der seit Jahren auch britische Radio-Tastemaker wie Gilles Peterson, Jamie Cullum oder Lauren Laverne zählen.

Atlantic Oscillations ist das erste Album des Briten seit dem gefeierten Magnetica-Longplayer aus dem Jahr 2014, das unter seinem Solo-Künstlernamen erscheint. Zwischendurch war Quantic jedoch keineswegs untätig, sondern widmete sich unterschiedlichen Nebenprojekten: Neben Veröffentlichungen mit The Western Transient und Flowering Inferno erschienen auch Duett-Releases, die nun unter Quantic & Nidia Góngora und Quantic y Los Míticos des Ritmo im Regal zu finden sind. Ein wichtiger Einschnitt war sein Umzug nach Brooklyn, wo Holland sein neues Aufnahmestudio „Selva“ aufgebaut hat und inzwischen regelmäßig als Resident im Good Room auflegt – Besucher des New Yorker Clubs dürften daher einzelne Tracks des kommenden Soloalbums schon im Vorfeld gehört haben. All diese Erfahrungen und Veränderungen, die vielen Reisen, Auftritte, Aufnahmen und Projekte hätten eine zentrale Rolle während der Entstehung von Atlantic Oscillations gespielt, wie er sagt: „Es fühlt sich so an, als ob dieses Album nach und nach entstanden ist, während ich immer tiefer in New York City eintauchte und die Stadt immer besser kennenlernte“, sagt Holland. „Ich hatte angefangen mit rein elektronischen Ansätzen, hatte zunächst alles mit Ableton gemacht, aber dann wurde mir klar, dass es mir mein neues Studio ja erlaubte, komplett mit Livemusikern zu arbeiten.“

„Ich denke, was den Sound von Quantic schon immer ausgemacht hat, ist dieser Versuch, elektronische Musik einfach natürlicher, handgemachter klingen zu lassen, auch Live-Elemente ins Spiel zu bringen, die einen fast schon die elektronischen Wurzeln vergessenen lassen, zumindest bis einen doch wieder irgendein Element überrascht und umhaut.“ Als erklärter Fan von Alben, die ihre Zuhörer*innen mitnehmen auf eine Reise und dabei viele Transformationen durchlaufen, nutzt Holland die Freiräume, um sich als Produzent auszuleben – und so durchaus eine Lanze zu brechen für das Albumformat, das als narrative Einheit in der Streaming-Ära an Stellenwert verloren hat: „Insgesamt zieht sich wohl als roter Faden durch dieses Album, dass es verschachtelter ist als frühere Veröffentlichungen, und dass die Arrangements ausgefeilter sind“, findet er selbst. „Verglichen mit früheren Quantic-Alben, habe ich auch drei Mal so lange daran gearbeitet. Denn gerade die ganzen Details waren mir sehr wichtig.“ Wie wichtig sie waren, hört man sofort: Jeder einzelne Track ist gespickt mit Elementen, die man so noch nicht bei ihm gehört hat und die den Longplayer unbedingt im Hier und Jetzt verorten.

Der Titelsong „Atlantic Oscillations“, der zugleich als erster Vorgeschmack fungiert, setzt ganz klar auf Disco-Vibes, die Quantic aus den kleinen und verschwitzten Dance-Clubs von Brooklyn exportiert. Was mit einer schlichten Bass-Spur beginnt, die Holland selbst eingespielt hat, entwickelt sich schließlich zu einem massiven Arrangement, in dem sich zuletzt durchaus auch Abgründe auftun. Der Titel, der sich auf ein meteorologisches Phänomen bezieht, basiert auf einer E-Mail von seiner Mutter: „Früher hat mir meine Mutter immer irgendwelche Artikel und Newsmeldungen geschickt, von denen sie dachte, sie könnten mich interessieren. Und einmal war da einer über diese wetterbedingten Schwankungen im Nordatlantik dabei.“

Passend zu den kosmischen Kreisläufen und Kräften, die ein derartiges Wetterphänomen bedingen, basiert der neue Longplayer insgesamt auf Hollands eigenen Trips um den Globus und den vielen musikalischen Einflüssen, die er unterwegs aufgesammelt hat. Ist der Titelsong ganz klar in der neuen Wahlheimat Brooklyn verwurzelt, war die Inspiration zu „September Blues“ seine erste ausgiebige Tournee durch die Staaten. Das Westafrika-Feeling von „Motivic Retrograde“ und die simplen Marimba-Melodien von „La Reflexión“ passen sehr gut zusammen – letzterer Track ist von einer Reise nach Kolumbien, Ecuador und Peru inspiriert. Mit dem Song „Tierra Mama“ feat. Nidia Góngora, das die kolumbianische Gastsängerin geschrieben hat, setzt er dann die Reise entlang der südamerikanischen Pazifikküste fort – und bezieht auch magische und mystische Elemente der Region ein (der Titel bedeutet „Mutter Erde“).

Neben Góngora sind auch angestammte Gäste mit von der Partie: Alice Russell etwa oder auch der Multiinstrumentalist Sly5thAve; dazu hilft auch die New Yorkerin Denitia am Mikrofon aus. Schon länger Tourmusiker und Mitglied der Quantic-Band, der sonst auch mit Größen wir Prince, Stevie Wonder und Janelle Monáe gearbeitet hat, zählt gerade Sly5thAve zu den Mitwirkenden, deren Handschrift man immer wieder ganz deutlich heraushört. „Er ist einfach ein echtes Monster, wenn er mit Saxofon oder Flöte loslegt“, sagt Holland. Mit „Orquídea“ feat. Sly5thAve setzen die beiden auf ausgelassene Stimmung, obwohl auch hier Anflüge von Melancholie durchschimmern. Ein Soultrack, dessen Beat ab sofort als Definition von „tightness“ durchgehen könnte, ist „Now Or Never“ feat. Alice Russell: Hier geht es um Verlust, um den Abschied von etwas oder jemandem, den man liebt. Genauso emotional klingt auch „You Used To Love Me“ feat. Denitia, ein Stück aus der Feder der Sängerin, die hier jenen Moment beleuchtet, wenn zwei Menschen einsehen müssen, dass sie ihre Beziehung ein für alle Mal an die Wand gefahren haben: Sie haben sich verloren, sind einander abhandengekommen, können unmöglich weitermachen, weil sie selbst nicht mal sagen können, was sie eigentlich wollen.

Auch Will Holland selbst tritt auf Atlantic Oscillations wieder einmal ans Mikrofon, zum ersten Mal seit fünf Jahren. Auf „Is It Your Intention“ hinterfragt er, wie im Titel angedeutet, die Absichten anderer, und mit „Incendium“ macht er sich auf die Suche nach Klarheit. „Ja, meine Mutter hatte eine tolle Stimme, und meine Schwestern sind auch echt talentierte Sängerinnen... insofern war ich immer von Leuten umgeben, die mich inspiriert und auch ganz konkret zum Singen angespornt haben. Trotzdem hab ich mich da immer ein wenig gesträubt“, gesteht Quantic abschließend. „Ich glaube, dass Musik für die Zuhörer etwas Heilendes haben und therapeutisch wirken kann – aber dasselbe gilt umgekehrt auch für die Musiker. Wenn man Songs schreibt, dringt man in Ecken des eigenen Denkens vor, die man sonst womöglich nie anzapfen würde. Das Ganze ist schon ein sehr meditativer Prozess.“

Tracklist: 
1 Divergence
2 Incendium
3 September Blues
4 You Used to Love Me ft. Denitia
5 Atlantic Oscillations
6 Now or Never ft. Alice Russell
7 Orquídea ft. Sly5thAve
8 Tierra Mama ft. Nidia Góngora
9 Motivic Retrograde
10 La Reflexión
11 Is it Your Intention?

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