Christof und ich haben den "Dorfroman" von Christoph Peters besprochen.
In Christoph Peters‘ aktuellem Buch geht es einerseits um ein Dorf, um das Leben und Aufwachsen in einem Dorf am Niederrhein in den 70er Jahren, andererseits geht es aber auch um ‚das ganze Leben‘. Er erzählt – wahrscheinlich deutlich autobiographisch – von einem Jungen aus Hülkendonck, der in eine stark von katholischer Kirche und dominanter Landwirtschaft geprägte Gesellschaft hineinwächst. Das soziale Leben spielt sich primär in der Familie, im Haus ab, Verwandte werden besucht, kirchliche Feste geben den Ablauf vor, sowohl des Sonntages, als auch unterjährig. Zu Beginn des Buches nutzt Peters eine kindlich-naive Sprache, eine Sprache, die Neugier verrät, die zeigt, dass sich hier ein kindliches Bewusstsein entwickelt, das ahnt, dass es da draußen, außerhalb der schützenden Hülle des Elternhauses mehr geben muss. Und es gibt eine Menge da draußen. Konkret: die Planung des sog. ‚Schnellen Brüters‘, eines neuen Typs Kernkraftwerk, der in Kalkar gebaut werden soll. Dieses Vorhaben, das die gesamte Region am Niederrhein verändern wird, hat das Potenzial, die Gesellschaft, das Dorf, die Familien zu spalten. Die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland hatte auch dort großen Zulauf und so ist es kein Wunder, dass der Ich-Erzähler in Peters‘ „Dorfroman“ sich damit beschäftigt. Ohnedies sehr an der Natur interessiert, er sieht im Fernsehen, das immer wieder leider nur ‚Schnee‘ zeigt, weil der Empfang zu jener Zeit eben nicht immer gut war, die Sendungen von Heinz Sielmann und Bernhard Grzimek, und angeregt durch seinen Biologielehrer, einen leidenschaftlichen Entomologen, beginnt er, sich mit Schmetterlingen zu beschäftigen und legt eine kleine Sammlung an. Mit 15 Jahren dann ist es soweit: er sucht den Kontakt zu den Protestierenden, jungen Leuten aus der Region und aus den angrenzenden Niederlanden, die von einem der Großbauern ein Stück Land mit einem Melkstall überlassen bekommen haben. Besagter Bauer ist gegen das neue Kraftwerk, die Spaltung in Hülkendock nimmt Fahrt auf. Aber nicht nur die. Auch die Pubertät nimmt Anlauf und der junge Protagonist verliebt sich heftig in die einige Jahre ältere Juliane, eine Frau mit starker Ausstrahlung und traumatischer Kindheit. Ihre Stimmungsschwankungen, die ihn irritieren, die er aber zu verdrängen versucht, weil er meist damit zufrieden ist, in ihrer Nähe zu sein, kann er nicht recht einordnen. Christoph Peters beschreibt diese junge Frau sehr intensiv, es scheint fast so, als – siehe oben – habe er sie gekannt, als gäbe es für sie ein reales Vorbild.
Die Spannungen zuhause nehmen zu, seine Schulnoten werden schlechter (was vor allem seine Mutter, die Lehrerin ist, heftig bemängelt). Er ist immer seltener zuhause, vernachlässigt seine Pflichten und auch sein Hobby. Diese erste Liebe, die eben nicht die Chance hat, sich in vertrauter Umgebung zu entwickeln, sondern die in der extremen Stimmung des Protestcamps permanenten Unterbrechungen und Prüfungen ausgesetzt ist, beschäftigt den Erzähler noch für lange Zeit. Hier nun kommt eine weitere Erzählebene und Erzählzeit in’s Spiel: Peters beschreibt einen in Berlin lebenden Mann, der seine alten Eltern in Hülkendonck besucht. Der Junge von einst ist nun der Beobachter und Chronist der Veränderungen. Er macht sich Gedanken über den gesundheitlichen Zustand seiner Eltern, findet in seinem ehemaligen Jugendzimmer Gegenstände von damals, Gegenstände die gleich der Proust’schen Madeleine eine Welt voller Erinnerungen hochspülen.
„Dorfroman“ ist ein auf vielen Ebenen beeindruckender Roman, vielleicht ist es angebracht, hier von einem Epochenroman zu sprechen, denn der Autor vermag es, viele Aspekte aus mehr als 40 Jahren bundesrepublikanischer Zeit enorm detailreich zu erzählen, ohne allzu sehr abzuschweifen. Natürlich ist das Buch ein Entwicklungsroman, der die Verwirrungen des Jungen eindrucksvoll zeigt, er ist ein Politroman, der das gesellschaftliche Leben, die Macht der Kirche, die dörfliche Enge und das Ausbrechen und Protestieren brillant wiedergibt. Das Buch wird nie gefühlig oder nostalgisch, der Autor umgeht all die Fallen, die das Abdriften in ein Schwelgen in Produkte und TV-Sendungen jener Zeit bieten, bravourös. Stattdessen zeigt er, wie es wirklich war, wenn eine Mutter dreier Kinder, versuchte, allen mit ihren je nach Alter unterschiedlichen Wünschen gerecht zu werden, indem sie einerseits eine Märchenplatte auf der Musiktruhe abspielte, andererseits aber auch den Streitereien der Jungs Raum gab, die Cowboy und Indianer mit Kunststofffiguren spielten. Der Herr des Hauses war derweil bei Versammlungen, in denen über den Verkauf des Landes in Kircheneigentum diskutiert wurde. Daraus sollte dann das Grundstück werden, das die sog. Brütergesellschaft für den Bau des Kraftwerks benötigt. Familienleben in den 70ern.
Das Ende des über 400-seitigen Buches zeigt wieder die Gegenwart, in der sich der abfahrbereite Sohn Gedanken darüber macht, wie lange sich seine Eltern wohl noch ohne eine Pflegerin aus Polen alleine in ihrem Haus mit Garten versorgen können und was nun eigentlich seine Heimat ist. Ein melancholischer Blick zurück.
Christoph Peters: Dorfroman; Luchterhand 2020, 412 Seiten, € 22.-